Gelesen: »Corpus Delicti – Ein Prozess« von Juli Zeh

corpus-delictiErster Satz: »Rings um zusammengewachsene Städte bedeckt Wald die Hügelketten.«

Mia und Moritz sind Geschwister. Sie leben im Jahre 2057. Die Regierung des Landes trägt den zweideutigen Namen METHODE und setzt auf gefühllose Sterilität. Der Konsum von Kaffee, Zigaretten und anderen uns heute bekannten Genussmitteln ist verboten. Mit regelmäßigen Pflicht-Urin- und Blutabgaben werden die Bewohner kontrolliert. Krankheiten sind bis auf wenige Ausnahmen ausgemerzt und diese wenigen Ausnahmen werden erfolgreich bekämpft. Küssen ist ekelig, überträgt es doch Keime. Die Menschen laufen mit Mundschutz herum, duschen sich mit Desinfektionsmittel. Reinheit scheint oberstes Gebot, denn auch Partnerschaften werden nur nach streng vorgegebenen Punkten geschlossen.

Die meisten Menschen sind begeisterte Anhänger der METHODE.

Moritz gehört jedoch nicht dazu. Und das wird ihm zum Verhängnis. Mia, die mit dem Tod ihres Bruders nicht klar kommt, stürzt in eine Depression, vernachlässigt sich und ihren Körper. Doch das ist strafbar und bleibt nicht unentdeckt. Sie trifft auf Freunde und Feinde, und wird tiefer und tiefer in den brutalen Sog der METHODE eingezogen, ohne entfliehen zu können. Wie groß die Macht der METHODE wirklich ist, erfährt sie jedoch erst am Ende.

Juli Zehs »Corpus Delicti« wurde bereits 2007 bei der Ruhrtriennale als Bühnenstück uraufgeführt. Und so wirkt der Roman auch mehr als Szenario für ein Theaterstück. Die Auftritte der Charaktere sind auf spezielle Szenenaugenblicke beschränkt, so wie wir sie auf der Bühne erkennen müssen. Ihre Charaktere sind stark ausgeprägt, fast schon zu schrill auf der einen oder zu ruhig auf der anderen Seite. Denn auf der Bühne herrschen andere Gesetze als in einem Buch oder in einem Film. Die Akteure sprechen lauter, sind bunter und treten übertrieben auf. Für die Bretter, die die Welt bedeuten ist das hervorragend, in einem Roman gewöhnungsbedürftig.

Zudem haftet ein unästhetischer Nachgeschmack an den ersten Seiten. Dort beschreibt Juli Zeh das Abarbeiten der Delikte am Gericht. Verwarnungen wegen zu hohem Koffeingehalt im Blut oder fehlender Kontrollzettel. Neben diesen in unseren Augen scheinbaren Bagatellen reiht sich jedoch auch »eine Kindersache« ein. Der Vater ist mehrfach vorbestraft wegen Missbrauchs toxischer Substanzen: Nikotin und Ethanol. Außerdem verstößt er gegen das Gesetz über Krankheitsfrüherkennung bei Säuglingen.

Hier geht es um das, was wir heute als Vernachlässigung bezeichnen würden, denn das 18 Monate alte Mädchen wird unterernährt und krank, im eigenen Kot liegend, in der Wohnung gefunden.

Der Vater wird bestraft und erhält eine medizinische und hygienische Fortbildung.

Wäre die Autorin bei ähnlichen lapidaren Vergehen geblieben, wie dem Gehalt von Koffein im Blut, oder den fehlenden Berichten, hätte das Buch mit einem ironischen Unterton begonnen, der passend erschien. Doch mit der Tatsache, dass sie schnell zu einem Delikt übergeht, wie es das heute leider zu oft gibt, vermischt sie Dramatik mit Ironie und lässt bei mir den besagten Nachgeschmack zurück. Möglicherweise wollte Juli Zeh damit auch nur darstellen, wie ähnlich Tragisches und Unsinniges bei der METHODE behandelt wird.
»Corpus Delicti« ist mir an vielen Stellen zu steril, hat zu wenig Gefühl. Juli Zeh, deren Werke in nahezu 30 Sprachen übersetzt wurden und die mit Preisen überhäuft wurde, lässt in diesem Werk den Leser nur stellenweise an die Protagonisten heran, dann entreißt sie einem gleich wieder diesen nahen Moment, indem sie die Perspektive verändert, sich als Autor an den Leser wendet oder ein neues Kapitel – einen neuen Akt – beginnt.

Hier kommt das Drehbuch durch, das es wohl für das Theaterstück war. Manche dieser Szenen beschreibt Juli Zeh jedoch so plastisch, dass man glaubt neben Mia zu stehen, obwohl sie eigentlich ganz woanders ist, nämlich im Gerichtssaal. Aber dort bleiben dürfen wir nicht. Szenenwechsel.

Die Idee jedoch ist – wenn auch nicht neu – brillant, aber ich hätte mir eine viel umfassendere Geschichte gewünscht, die an den Eckpunkten rund gefeilt worden wäre.

So bleibt der Roman für mich ein Zukunftsszenario mit Lücken. Denn das, was mir fehlt, ist bei der METHODE verboten: Gefühl. Dementsprechend hat Juli Zeh die Handlung exakt dargestellt, doch um mitfühlen zu können, ist das Gefühl, die Nähe zum Charakter, unerlässlich.

Positiv ist jedoch, dass ich die Bilder, die von der Geschichte stellenweise ausgehen, stets auf einer Bühne zu sehen glaubte, und da passt »Corpus Delicti« perfekt hin.

Im unmittelbaren Vergleich zur phantastischen Literatur dürfte es »Corpus Delicti« bei den Lesern dieses Genres schwer haben, aber für diese Zielgruppe war der Roman möglicherweise auch nicht gedacht.

Wer sich bewusst macht, dass »Corpus Delicti« kein Roman der üblichen Art ist, sich aber auf ein Lese-Experiment mit Theaterluft einlassen will, wird sein Vergnügen haben.

Juli Zeh
Corpus Delicti – Ein Prozess
Hardcover mit Schutzumschlag und Lesebändchen
Schöffling & Co., Februar 2009
ISBN 978-3-89561-434-7
264 Seiten
19,90 €
 

Zur Information: In der phantastisch!-Ausgabe Juli 2009 wird  die vielseitige, zielstrebige und preisgekrönte Autorin Juli Zeh näher vorgestellt.

Webtipps:

© Cover: Schöffling & Co / Text: Nicole Rensmann

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