Interview Nick Harkaway – April 2010

In der 2. Ausgabe im April des Jahres 2010 und somit die # 38 von phantastisch! erschien das Interview mit dem sympathischen Autor Nick Harkaway. Das Interview führte ich bereits im Oktober 2009.

»Wenn du unsicher bist, mach es größer!«

Interview mit Nick Harkaway von Nicole Rensmann

Übersetzung: Jürgen Langowski

Übersetzer Jürgen Langowski und Lektor Carsten Polzin sind gleichermaßen begeistert von Nick Harkaways »Die gelöschte Welt«. Der 728 Seiten starke Roman erschien bei Piper mit einer Auflage von 50.000 Stück. Während Jürgen Langowski dem Debüt mehr Aufmerksamkeit wünscht, war Carsten Polzin im Oktober 2009 zufrieden:

»Bislang entsprechen die Verkaufszahlen durchaus unseren Erwartungen. In diesen schwierigen Zeiten im Buchhandel wird natürlich kaum ein Buch über Nacht zum Megaseller, erst recht kein Debüt. »Die gelöschte Welt« ist ein Roman zum Entdecken, ein ungeheuer vielschichtiges Werk, der seine ganze Kraft erst nach und nach entfaltet. Wenn es einen aber gepackt hat, entkommt man dieser ungeheueren Mischung aus Fantasy, Science Fiction und Abenteuer nicht mehr. Die ersten Reaktionen der Buchhändler und Leser bestätigen dies. Und das freut mich sehr.«

Nick Harkaway wurde am 26. November 1972 als Sohn des Schriftstellers John Le Carré geboren. Er studierte Philosophie, Soziologie und Politik am Clare College in Cambrigde, arbeitete aber anschließend in der Filmindustrie.

Er ist Nichtraucher, Kampfsportler und  lebt mit seiner Frau Clare Cornwell in London.

Twitter, Facebook oder Myspace nutzt Nick Harkaway intensiv, dabei verwendet er einen selten gewordenen fast schon poetischen Ton und pflegt den Kontakt mit seinen Lesern ohne jegliche Berührungsängste.

Sein Roman »Die gelöschte Welt« (»The Gone-Away World«) wurde unter dem Arbeitstitel »The Wages of Gonzo Lubitsch« von Heinemann Verlag für £ 300,000 ersteigert. Für ein Debüt bemerkenswert.

Als Übersetzer sucht Jürgen Langowski den Kontakt zum Autor, stellt sich vor, nicht zuletzt um eventuell auftretende Probleme die sich bei der Übersetzung ergeben können, zu besprechen.

Viele Autoren jedoch, so sagt er, suchen den Kontakt zu ihm: »Stan Nicholls wäre da beispielsweise zu nennen. Er legt großen Wert darauf, mit allen seinen Übersetzern in Verbindung zu bleiben und sie, wenn möglich, auch persönlich kennen zu lernen.«

Die Zusammenarbeit mit Nick Harkaway hebt er jedoch hervor:

»Besonders schön war, dass Nick Harkaway deutsch spricht. So konnte ich mich hin und wieder mit ihm über Stellen austauschen, die in allzu wörtlicher Übersetzung nicht funktioniert hätten, und mit ihm zusammen Lösungen erarbeiten.«

»Die gelöschte Welt« liegt ihm besonders am  Herzen und das aus einem »Unliterarischen, absolut subjektiven« Grund: »Ich habe mich lange nicht mehr so bei der Arbeit amüsiert.«

Nick Harkaway fabuliert gerne, er sucht nach dem passenden Wort, liebt es im Dictionary zu blättern und selten verwendete Wörter aufzustöbern. Eine Herausforderung für den Übersetzer?

»Ja und nein. Der Text ist anspruchsvoll, und ich musste doch öfter mal innehalten, nachdenken und recherchieren. Andererseits ist das Buch glänzend geschrieben. Als Übersetzer bin ich dankbar, wenn mich der Autor gewissermaßen an der Hand nimmt und trittsicher durch seine Welt führt.

Das erleichtert meine Arbeit sehr. Je schlechter ein Buch geschrieben ist, desto mehr Arbeit hat der Übersetzer damit. Insofern war „Die gelöschte Welt“ auch wieder eine sehr leichte und dankbare Arbeit.«

Die Geschichte ist weit davon entfernt, oberflächlich zu sein. Dem Schreibstil ist deutlich anzumerken, dass du jemand bist, der sich mit Sprache beschäftigt. Fast wirkt »Die gelöschte Welt« wie eine akribisch angelegte, mit viel Herzblut versehene Doktorarbeit. Doch für die teils etwas verwöhnte Lesergemeinde, die geradlinige Bücher mag, ist »Die gelöschte Welt« schwere Kost, nicht nur stilistisch schlägst du einen neuen Weg ein; der Ich-Erzähler  macht es nicht leicht, sich mit einer Figur zu identifizieren. Außerdem übst du Kritik an der Gesellschaft und thematisierst z.B. Zivilcourage, Umweltprobleme etc.

Jürgen Langowski meint dazu:

»Beinahe bin ich in Versuchung, einen Begriff für ein literarisches Krankheitsbild zu prägen: das »Gene-Wolfe-Syndrom«. Wer Wolfes Bücher kennt, mag sie und schätzt sie wegen ihrer sprachlichen Brillanz und ihrer Vielschichtigkeit. Leider will sie aber kaum jemand kaufen. Es wäre schade, wenn Nick Harkaways Buch diesem Syndrom zum Opfer fiele. Anderseits – das Buch ist noch nicht lange auf dem Markt, und ich bin sicher, dass es doch noch seine Leser finden wird. »Die gelöschte Welt« ist ein sehr ungewöhnlicher und schöner Roman, der es nicht verdient hätte, sang-und klanglos unterzugehen.«

War dir, Nick,  bewusst, dass du damit auch anecken könntest?

Ich habe mich entschieden, weder in sprachlicher noch in inhaltlicher Hinsicht Kompromisse zu machen. Die heutigen Benimmregeln in der britischen Literatur sagen: Sei sparsam, stringent, modern und pseudo-realistisch. Es gibt großartige Bücher, die in diesem Stil geschrieben sind, aber die Vorstellung, dies sei der einzig gangbare Weg, ist idiotisch. Ich wollte ein starkes, verrücktes Buch schreiben, das einen wie eine Explosion überkommt, ein schriftliches Gegenstück zum Dom von Siena oder Heston Blumenthals Kochkünsten.

Dabei dachte ich an Autoren wie  Pynchon, de Bernières, Vonnegut, Chabon, DeLillo, und natürlich auch an Dumas und P.G.Wodehouse. Ich wollte lieber mit fliegenden Fahnen untergehen als kneifen. Beim Schreiben habe ich eine Regel befolgt: Wenn du unsicher bist, mach es größer. Mach es fetter, verrückter, deftiger, stärker, erschreckender…

Natürlich war mir bewusst, dass ich damit manchen Leuten auf die Zehen treten würde. Ich hatte mit Beschwerden gerechnet, weil ich die Großkonzerne angegriffen hätte (was ich  im Übrigen gar nicht getan habe; eine ähnliche Abneigung hege ich für ein System, das die Menschen zwingt, mechanisch nach vorgegebenen Richtlinien zu funktionieren und ihre persönlichen ethischen und menschlichen Grundsätze zurückzustellen. Ich glaube, genau dort wachsen die Monster.)

Allerdings hat sich niemand beschwert. Außerdem hat niemand gesagt – auch das hatte ich nicht beabsichtigt, aber ich dachte, jemand würde es erwähnen -, dass die Neuen im Buch eine Metapher für die Art und Weise sind, wie wir die Moslems im „Krieg gegen den Terrorismus“ behandeln. Ich weiß nicht, ob das nun bedeutet, dass mich niemand ernst nimmt, oder ob die politischen Aussagen des Buchs so ausgewogen sind, dass mich niemand kritisiert. Die Beschreibung des Krieges hat mich sehr in Anspruch genommen, damit hatte ich nicht gerechnet. Es fiel mir schwer, weil ich kein Soldat bin und keine militärische Erfahrung habe. Deshalb habe ich mich sehr bemüht, die Kriegserfahrungen auf eine Weise zu schildern, die nicht lächerlich wirkte. Es ist mir egal, wenn das Herstellungsjahr eines Maschinengewehrs nicht stimmt, aber mir ist wichtig, dass jemand, der als Soldat gedient hat, nicht sagt: „Tja, der Kerl ist ein Trottel.“ Bis jetzt waren meine Leser mit militärischer Ausbildung recht angetan, also hat es wohl funktioniert. Für mich läuft es darauf hinaus, dass jeder ein Mensch ist. Sogar mein Schurke ist ein Mensch. Vielleicht bin ich deshalb damit durchgekommen…

»Die gelöschte Welt« verfügt mit seinen fast 730 Seiten über einen nicht zu verachtenden Umfang. Wie lang hast du an dem Roman gearbeitet?

Fast genau ein Jahr, und dann habe ich es gründlich überarbeitet. Mein zweites Buch dauert länger, was vielleicht an den vielen Unterbrechungen liegt – Öffentlichkeitsarbeit und so weiter. Möglicherweise auch daran, dass das zweite Buch immer schwerer ist.

In deiner Vita steht, dass du zahlreiche Kampfsportarten gelernt hast, sie aber bemerkenswert schlecht beherrschst. Auch in »Die gelöschte Welt« spielen Kampfsportarten eine Rolle, hast du aus Recherchezwecken beim Fechten, Aikido, Jujitsu und Kickboxen reingeschnuppert oder eher deine Erfahrungen in das Buch eingebaut?

Ich beherrsche sie so schlecht, dass es schon wehtut … autsch! Nein, ich habe nicht groß recherchiert. Jiu Jitsu habe ich vier Jahre lang gelernt, Kickboxen und Gong Fu jeweils ein Jahr und Tai-chi sieben Jahre lang … ich habe sogar mal einen Kurs in Escrima belegt. Im Dojo bin ich allerdings eine Katastrophe, und im Boxring ein Witz. Aber wenn man so etwas eine Weile macht, lernt man natürlich die Grundbegriffe.

Du beschäftigst dich sehr mit der Sprache, formulierst, suchst nach passenden Wörtern. Gibt es ein Wort, das du auf keinen Fall in deinen Romanen verwenden würdest und eins, dass du gern anwenden möchtest, aber noch nicht den richtigen Stoff dazu hattest?

Die englische Sprache ist wahnsinnig umfangreich. Es gibt eine halbe Million Wörter, wenn man Fachausdrücke und wissenschaftliche Begriffe weglässt, und fast eine Million, wenn man sie einschließt. Die britische Ausgabe des Romans ist zweihunderttausend Worte lang. Stell dir das mal vor. Selbst wenn man annimmt, ich hätte jedes Wort nur ein einziges Mal benutzt, was offensichtlich nicht der Fall ist, gibt es immer noch dreihunderttausend Wörter der normalen englischen Sprache, die ich nicht berücksichtigt habe.

Das Buch zu übersetzen, war eine gewaltige Aufgabe. Jürgen Langowski hat eine fabelhafte Arbeit geleistet. Ab und zu hat er mich einbezogen, um gewisse Feinheiten zu klären, aber im Grunde hat er das ganz allein gemacht …

Gibt es Wörter, die ich nicht verwenden konnte? Da wären etwa „sesquipedalia“ und „tortiloquy“, zwei Begriffe für Schwülstigkeit, Weitschweifigkeit und Geschwurbel. Immerhin habe ich den Begriff „rhetorisches Gekräusel“ geprägt, und das wäre eigentlich eine Gelegenheit gewesen, diese Vokabeln zu benutzen. Das Wort „tortiloquy“ kannte ich damals aber noch nicht.

Arbeitest du an einem neuen Roman? Wenn ja, wovon handelt er?

Natürlich! Ich habe ihn fast vollendet. Er ist … oh Mann. Wenn du mir sagen kannst, worum es in „Die gelöschte Welt“ geht, dann verrate ich dir, worum es in diesem Roman geht. Er ist völlig anders und hat doch die gleiche verrückte Einfühlsamkeit und ist ähnlich irrwitzig. Ich hoffe es jedenfalls. Ich hoffe es sehr … es ist beklemmend, so etwas zu tun. Was ist, wenn ich die Leute enttäusche? Oh je …

Es geht um Gangster, ein Uhrwerk, Elefanten, Regierungen, Religion, Sex, Wissenschaft … es ist ein Roman.

Du möchtest eine Menge Menschen kennen lernen, so schreibst du auf einem deiner Internetportale, u.a. Karen Armstrong, Clint Eastwood, Kylie Minogue, Tim Robbins oder Kurt Vonnegut, Johnny Depp, Camilla Judge. Für den einen oder anderen musst du eine Zeitreise auf dich nehmen, um sie zu sprechen, was würdest du Douglas Adams oder Wolfgang Amadeus Mozart fragen?

Ich würde ihnen die Wahl des Themas überlassen. Bei Menschen, die ich bewundere, verhalte ich mich immer wie ein Musterschüler. Ich beobachte sie, höre zu, baue mir im Kopf ein Modell von ihnen und fülle es so gut wie möglich mit allem, was ich über sie weiß. Ich weiß dann zwar immer noch nicht, was sie wirklich sagen würden, kann aber wenigstens den Tonfall nachempfinden und mir überlegen, wie sie wohl auf ein bestimmtes Thema reagieren würden. Ich ernenne so jemanden zu meinem persönlichen Sokrates und lerne von ihm alles, was nur in meinen Kopf hineingehen will, und dann lasse ich ihn ziehen. Ich habe keine Fragen – sie sollen vielmehr mir Fragen stellen. Fragen sind oft viel interessanter als Antworten.

Wenn ich den Gesprächen auf Twitter folge, verstehst du dich gut mit Joe Hill. Ihr habt beide bekannte Väter. Joe Hill ist Stephen Kings Sohn, dein Vater ist niemand anderer als John Le Carré. Ist es schwer, sich gegen einen bekannten Vater zu behaupten? Wie gingen Freunde oder neue Bekannte mit der Prominenz in deiner Familie um?

Natürlich habe ich mich mit Joe ausgetauscht. Er ist ein wirklich netter Kerl, und uns verbindet sicher auch eine Reihe von Erfahrungen, die mit unseren Vätern zu tun haben. Wir haben wohl etwas unterschiedliche Wege beschritten, um damit umzugehen, aber ich glaube, die Gründe waren ähnlich.

Es ist schon komisch, dass viele Menschen die Vater/Sohn-Beziehung beim Schreiben als eine Art Wettstreit betrachten. So ist das wirklich nicht, jedenfalls nicht in meinem Fall. Mein Vater war begeistert und ein wenig erstaunt, als ich ihm erklärte, dass ich einen Roman geschrieben hatte. Dabei hatte ich nicht die Vorstellung, »Die gelöschte Welt« müsse in den Buchläden mit „Marionetten” wetteifern – warum auch? Mal abgesehen davon, dass ich natürlich sowieso alle anderen auf der Bestsellerliste übertrumpfen wollte.

Ich habe auch nie verstanden, was die Leute in diesem Zusammenhang über mich und meinen Vater herausfinden wollen … es gibt einen alten philosophischen Witz: »He, meine Schuhe sind viel bequemer als deine!« Da aber jeder Mensch andere Füße hat, kann man das gar nicht sagen. Wahrscheinlich ist dies die beste Art und Weise, es zu betrachten – es ist einfach mein Leben. Der Salamander beschwert sich nicht über die Hitze.

Wolltest du immer schon Autor werden, weil dein Vater Autor ist? Ist er dein Vorbild, auch wenn er eine andere Art von Literatur schreibt?

Als ich ein kleiner Junge war, hatten wir einen besonders fröhlichen Milchmann. Ich wollte das Gleiche tun wie er, weil er so glücklich war. Später las ich »Der Herr der Ringe« und wollte ein Hobbit sein. Noch später, auf der Universität, wollte ich Anwalt oder Umweltschützer werden. Nach dem Studium in Cambridge brauchte ich einen Job und arbeitete zunächst als Assistent am Filmset … mir war schon klar, dass das Schreiben von Büchern ein Beruf ist, eine Möglichkeit. Die meisten Menschen haben eine verschwommene Vorstellung, wie das funktioniert, aber ich wusste, wie es war, und deshalb wusste ich auch, dass ich es tun konnte, wann immer ich wollte. Es ist übrigens wirklich harte Arbeit. Wir reden hier nicht über Keats, der mit einer Flasche Laudanum und einer Zigarette an der Themse sitzt. Romane schreiben ist echte Arbeit.

Ob er ein Idol für mich war? Aber klar! Er ist mein Dad. Ich liebe ihn. Aber dem Mann namens le Carré, über den du jetzt redest, bin ich nie begegnet. Er spielt für mich keine Rolle, denn ich kenne den Mann, den Vater, den Freund.

Ihr wart zu Hause eine große Familie. Wie viel Geschwister hast du und sind sie auch literarisch oder künstlerisch tätig?

Ich habe drei Halbbrüder, die ihrerseits wieder einen Halbbruder mütterlicherseits haben. Damit sind wir fünf. Außerdem haben sie inzwischen alle Kinder, wir sind also eine Horde. Das ist schon verrückt – meine Halbbrüder sind alle älter als ich, daher bin ich in gewisser Weise als Einzelkind aufgewachsen (meine Mutter hat nur mich, deshalb trifft das in gewisser Weise sogar zu). Jetzt auf einmal gehöre ich einem großen Klan an. Manche von uns arbeiten künstlerisch, andere nicht. Es ist so wie in allen Familien.

Ursprünglich kommst du aus der Filmbranche. Welche Fähigkeiten konntest du von dort für deinen Roman mitnehmen, welche musstest du dir neu aneignen?

Vor allem lehrt einen die Filmindustrie Standhaftigkeit. In beiden Bereichen werden Geschichten erzählt, und ich wusste, dass ich die Story zu Ende bringen konnte, weil ich schon vorher langfristig angelegte Projekte durchgezogen hatte. Aber ansonsten ist es eine völlig andere Welt.

Ich danke dir herzlich für das Interview und wünsche dir viel Erfolg!

Danke. Ich hoffe du genießt The Gone-Away World.

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Foto by Clare Cornwell
Cover, deutsch: Randomhouse
Text: Nicole Rensmann / phantastisch!
Mach es wie die Gebrüder Grimm: Erzähl es weiter.